Diabetesberatung und andere Kulturen: Sprachbarrieren und Mentalitätsunterschiede
Diabetesberatung für Menschen mit ausländischen Wurzeln – dieses Thema war in Deutschland in Beratungsstellen, bei Schulungen und in Krankenhäusern lange Zeit wenig präsent. Die Diabetesberaterin Gülcan Celen von den DRK Kliniken Berlin Mitte blickt auf eine jahrzehntelange Erfahrung auf diesem Gebiet zurück. Neben ihrer Arbeit im Krankenhaus gibt sie für den Verein deutscher Diabetesberatungsberufe Seminare für Diabetesberater und engagiert sich ehrenamtlich für den Deutschen Diabetikerbund. Mit uns spricht sie darüber, wie besonders Menschen aus dem Orient mit Krankheiten wie Diabetes umgehen, warum oft gar nicht viele Worte für eine gute Beratung nötig sind und weshalb es wichtig ist, Menschen zu ermutigen, sich der Erkrankung zu stellen.
Von Andreas Göbel/ A.F.S.-Biotechnik
Frau Celen, wie hat sich aus Ihrer Sicht die Diabetesberatung für Menschen mit ausländischen Wurzeln in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Ich habe Ende 1990 meine Ausbildung beendet, damals war der Bedarf an Übersetzungshilfen und Informationsangeboten riesig, gerade von türkischsprachigen Menschen. Zu dieser Zeit ging die erste Generation der Gastarbeiter gerade langsam in Rente. Es gab sehr wenige türkischsprachige Ärzte, kaum schriftliche Informationen auf türkisch. Die Leute wollten sich zwar informieren, diese Generation konnte aber am wenigsten deutsch. Vor allem im Bereich Ernährung und besonders beim Thema Diabetes gab es ein riesiges Loch.
Heute ist das Beratungsangebot deutlich besser. Mehrsprachigkeit hat insgesamt einen größeren Wert, diese Denkweise gab es damals noch nicht. Mittlerweile existiert zum Beispiel sehr viel Beratungsmaterial in verschiedenen Sprachen. Natürlich sind auch Übersetzer-Apps sehr hilfreich. Wir haben inzwischen auch sehr viele Kollegen aus anderen Ländern. Zudem spricht die neue Generation ohnehin deutsch, das war Ende der 90er ganz anders. Es hat sich also viel getan.
Was sind die Besonderheiten im Umgang mit nicht-deutschsprachigen Diabetes-Patienten?
Natürlich braucht es Sprache, um die Krankheit und die nötigen Maßnahmen zu erklären. Manchmal muss man vom deutschen Perfektionismus aber auch mal Abstand nehmen: Die Grammatik muss nicht perfekt sein – manchmal kann man schon mit zehn Wörtern arbeiten. Die Hauptsache ist, dass jemand lernt, wie man richtig Insulin spritzt oder wie man Blutzucker misst. Zudem gibt es mittlerweile ganz viele Ressourcen, die mit Bildern und teilweise auch ganz ohne Sprache auskommen.
Auch in Schulungen für Diabetesberater versuche ich immer zu vermitteln, dass nicht viel Sprache notwendig ist – sondern dass es vielmehr auf die Motivation des Patienten ankommt. Das habe ich bei einer syrischen Gruppe gelernt: Von den jungen Menschen hatten einige Diabetes, konnten kaum Deutsch, aber waren sehr motiviert. Trotz der Sprachhürden war es ein herrliches Arbeiten – ich kann davon nur Positives berichten. Gleiches gilt für eine kurdische Gruppe, die ich betreut habe: Da haben zehn Wörter ausgereicht, um mit Kurden aus dem Irak, Syrien und der Türkei kommunizieren, die keine andere Sprache konnten.
Sie haben vor allem Erfahrungen mit Menschen aus der Türkei oder dem Nahen Osten. Gibt es da im Vergleich zu Deutschland kulturelle Unterschiede, wenn es um den Umgang mit Krankheiten geht?
Prinzipiell ist die Akzeptanz, dass eine Krankheit vorliegt, in der orientalischen Community sehr hoch. Natürlich gibt es auch hier die fünf Phasen – vom nicht Wahrhaben wollen bis zur Akzeptanz. Im Allgemeinen wird das am Ende angenommen, als eine von Gott gegebene Prüfung.
Bei Krankheiten wie Diabetes Typ 1 kann das durchaus problematischer sein. Bei Neumanifestationen sehe ich häufig den Effekt, dass es eine Scheu gibt, sich zu outen – weil die Betroffenen dann Insulin spritzen müssen. Manche Familien befürchten, dass sie von der Community bemitleidet werden. Manchmal wird eine solche Krankheit auch als Makel gesehen. Ein Mann ist nach der Diagnose von Typ 1 Diabetes in meiner Praxis zusammengebrochen, weil er befürchtete, dass ihn keine Frau mehr heiraten würde. Im Gespräch äußerste er dann, dass auch er keine Frau mit einer Krankheit wie Diabetes nehmen würde.
Die Menschen mit türkischen Wurzeln sprechen heute zwar in der Regel deutsch. Nachholbedarf gibt es daher eher bei der Wissensvermittlung: Ganz grundsätzlich sind Betroffene mit orientalischen Wurzeln eher auf der Suche nach möglichst leichten und einfachen Wegen der Behandlung, für die keine großen Veränderungen im Alltag nötig sind. Dass bei Diabetes eine Änderung des eigenen Lifestyles aber extrem wichtig ist, ist in vielen Köpfen noch nicht so angekommen. Der deutsche Diabetikerbund bemüht sich zwar sehr um diese Community, aber wir müssen da noch deutlich mehr machen, es reicht noch nicht.
Wie sieht diese Suche nach einfachen Wegen beim Thema Diabetes praktisch aus?
Die türkischen Medien sind oft sehr präsent bei den Menschen, dort gab es kürzlich zum Beispiel Meldungen über eine angebliche Diabetes-OP: Die Adipositas-OPs – also vor allem Eingriffe zur Verkleinerung des Magens – werden aktuell teils so verkauft. Bei den Menschen kommt dann an, dass nur eine Operation in der Türkei nötig ist, um die Zucker-Erkrankung loszuwerden. Viele wollen eine schnelle Lösung, aber so einfach ist das natürlich nicht. Aktuell haben wir etwa eine Adipositas-Gruppe mit türkischen Männern aus Bulgarien mit einem eher niedrigen Bildungsstand -alle wollen sich operieren lassen. Dabei ist schon von vorneherein abzusehen, dass diese Patienten vermutlich nach zwei Jahren wieder zunehmen werden. Denn wenn man nicht aufpasst, weitet sich der Magen nach einer Weile wieder. Darum geht es oft: Es fehlt das Wissen, dass Bewegung einfach die Basis für einen Ausweg aus Typ 2 Diabetes ist. Die Motivation für Sport ist aber oft gering. An diese Basis heranzukommen, ist sehr schwierig. Und letztlich hilft nichts, wenn die Leute nicht mitmachen. Der Bedarf nach kompetenter Beratung ist also vorhanden.
Zusätzlich brauchen wir eine Veränderung in Bezug auf den Blickwinkel einer Beratung. Der Migrationshintergrund ist nie das Problem – das Problem ist die Herangehensweise. In einen Koffer kann nicht viel gepackt werden. Jeder nimmt aber seine Religion, seine Kultur und seine Essgewohnheiten mit. Es ist deshalb normal, dass Menschen in der Fremde noch stärker an diesen Punkten festhalten. Wichtig ist – neben dem grundsätzlichen Interesse der Patienten – sich Zeit zu nehmen und die individuellen Umstände im Blick zu haben. Viele Menschen fühlen sich nicht aufgenommen, wenn sie in einem neuen Land sind. Wenn sie merken, dass man sich um sie kümmern will, gibt es oft sehr viel Offenheit und Wärme und Mitarbeit zurück.
Wie wirken sich kulturelle Unterschiede auf diesem Gebiet in Ihrer Erfahrung denn aus?
Das Bedürfnis, gewisse Statussymbole nach außen zeigen zu wollen, ist selbst bei Menschen, die hier schon in der zweiten Generation leben, noch recht stark. Die Herausforderung besteht darin, den Menschen klarzumachen, dass es sich lohnt, Geld in Gesundheit zu investieren – nicht nur in Schönheits-OPs, Schmuck oder Kleidung. Die AOK in Berlin bietet zum Beispiel seit vielen Jahren eine kostenlose Ernährungs- und Diabetesberatung an. Viele aus der Community wissen das gar nicht.
Im Hintergrund steht immer die Frage „Warum bewege ich mich nicht?“. Die Religion verbietet das jedenfalls nicht. Auch das Kopftuch ist da kein Hindernis. Es ist nicht die Religion, es ist die Mentalität, die oft im Wege steht – bei Christen aus der Türkei oder dem Orient ist die Haltung oft dieselbe wie von Muslimen. Aufbrechen lässt sich das vermutlich nur durch Bildung – da habe ich die Hoffnung, dass die Kinder es besser machen, als ihre Eltern. Aus meiner Sicht wäre es deshalb wichtig, dass die Bedeutung von Bewegung schon in den Schulen stärker vermittelt wird.
Auch müsste man viel stärker in die Moscheen gehen, das wäre eine politische Aufgabe. Denn dort gibt es eine riesige Community an Übergewichtigen. Besonders die Aleviten und Jesiden sind da sehr offen, auch weil es kleinere Gruppen sind. Die Arbeit dort wäre vor allem eine Aufgabe für Diabetologen. Wir können Mahlzeiten zusammenstellen, Energieberechnung machen und Insulindosierungen einstellen. In meiner Kindheit hatte sich die evangelische Kirche sehr in der Zusammenarbeit mit Moscheen engagiert. So etwas gibt es bei uns in Berlin leider auch nicht mehr. Ehrenamtlich lässt sich das jedenfalls nicht alles schaffen.
Zudem sollten über die Krankenkassen mehr Mittel für kostenlose Bewegungseinheiten zur Verfügung gestellt werden. Mein persönlicher Traum ist eine Walking-Gruppe für Frauen aus dem Orient. Die Arbeit ist viel einfacher, wenn Frauen unter sich sind.
Gibt es denn auch Unterschiede zwischen Mann und Frau, was den Umgang mit Diabetes angeht?
Definitiv. Frauenfeindlichkeit ist in dieser Kultur noch immer ein Problem und darüber müssen wir reden – warum etwa muslimische Frauen immer übergewichtiger sind als die Männer, warum muslimische Frauen nicht viel aus der Wohnung kommen, obwohl sie arbeiten. Ich erinnere mich gut an eine Adipositas-Gruppe, die auf eine Magenverkleinerung vorbereitet werden sollte. Beim Thema „Änderung des Lebensstils“ ging es auch um das Thema Sport nach der Operation. Eine junge Frau in der Gruppe sagte, ihr Mann verbiete ihr, Sport auszuüben. Da wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass wir ein generelles, grundlegendes Problem haben. Egal, welche Generation: Es ist immer noch so, dass Frauen diesen Einschränkungen unterliegen. Manche begeben sich selbst in diese Rolle. Sie wollen das, weil es dem traditionellen Bild einer Mutter entspricht. Aus dieser anerzogenen Mutterrolle kommen orientalische Frauen nicht oder nur sehr schwer heraus. Sie sollen zwar arbeiten und auf einer gewissen Ebene selbstständig sein – aber gleichzeitig eine gute Hausfrau und eine gute Mutter sein. Aus dieser Rolle sind viele immer noch nicht heraus. So etwas dauert.
Mein Ansatz ist dann ein anderer: Zum Beispiel zu vermitteln, dass Gemüsegerichte gut für die Familie sind, dass es nicht immer Teig als Grundlage einer Mahlzeit sein muss, dass man keine böse Mutter ist, weil man dem Kind Wasser statt Cola zu trinken gibt.
Wohin wenden sich Menschen, die direkte Hilfe bei der Beratung brauchen?
Informationen für Menschen aus anderen Kulturkreisen gibt es zunächst einmal in diabetologischen Schwerpunktpraxen. Patienten sollten die Beraterinnen und Berater einfach fragen, die werden die richtigen Materialien sicher herausfinden. Außerdem gibt es teils sehr gutes mehrsprachiges Material von den verschiedenen Pharma-Firmen. Kollegen, die sich weiterbilden wollen, können sich an die Deutsche Diabetes-Gesellschaft wenden, dort gibt es eine eigene Arbeitsgruppe Migranten.
Für Patienten mit Migrationshintergrund gibt es ein gutes Angebot auf der Seite des interkulturellen Gesundheitsprojekts „Mit Migranten für Migranten (MiMi)“. Unter anderem gibt es dort einen Leitfaden Diabetes in derzeit 14 Sprachen, darunter etwa persisch, polnisch oder arabisch.
Frau Celen, vielen Dank für das Gespräch.