Obdachlosenhilfe, Teil 1: Wenn Diabetes keine Rolle mehr spielt
Krankheiten sind nur eines von vielen Problemen, mit denen Obdachlose jeden Tag zu kämpfen haben. Eine Hilfestellung in der Not bildet in Münster das ehrenamtlich betriebene und vom Arbeiter-Samariter-Bund koordinierte Versorgungsmobil. Im Gespräch berichten der Rettungsassistent Felix Winkels-Herding und der Versorgungsbus-Koordinator Thomas Wilmes von den gesundheitlichen Problemen der Obdachlosen – und warum in manchen Fällen sogar potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen wie Diabetes im Alltag der Menschen keine Rolle mehr spielen.
Von Andreas Göbel/ A.F.S.-Biotechnik
Herr Wilmes, Herr Winkels-Herding, wie wirkt sich Obdachlosigkeit allgemein auf die Gesundheit aus?
Winkels-Herding: Weil Obdachlose mehr oder weniger ständig der Witterung ausgesetzt sind, sind zunächst einmal Hautschädigungen ein großes Thema, entweder durch Kälte oder Hitze. Auch Schnittverletzungen sind ein immer wiederkehrendes Problem, weil die Obdachlosen oft Mülltonnen nach Pfandflaschen oder ähnlichem durchsuchen. Mangelnde Hygiene oder andere Krankheiten wie Diabetes können dafür sorgen, dass sich Wunden bilden oder nicht sauber ausheilen. Auch für die Skelettstruktur ist es belastend, wenn man oft auf hartem oder kaltem Untergrund schläft und die ganze Zeit all seine Habseligkeiten mit sich herumtragen muss. Bei alternden Menschen kommen die anderen Krankheiten hinzu, die mit zunehmendem Alter auftreten. So kommt eine ganze Menge zusammen – zumal ja oft auch keine regelmäßige ärztliche Grundversorgung stattfindet: Obdachlose haben häufig Hemmungen, zum Arzt zu gehen – da spielt Scham eine große Rolle. Auch Ärzte und Patienten haben da manchmal Probleme.
Wilmes: Einerseits ist es schon beeindruckend, wie stark so ein menschlicher Körper eigentlich sein kann. Andererseits fordert diese dauernde Belastung natürlich mit der Zeit einen großen Tribut – gerade, wenn chronische Krankheiten ins Spiel kommen oder eine Drogensucht vorliegt.
Welche Rolle spielt Diabetes unter Obdachlosen?
Winkels-Herding: Diabetes ist durch die gesamte Gesellschaft ein Problem. Dementsprechend findet sich auch unter Obdachlosen Diabetes Typ 1 oder 2. Oftmals ist das für die Betroffenen aber gar nicht das Hauptproblem, weil so viele andere Herausforderungen und Krankheiten bestehen.
Das Leben auf der Straße macht alles viel komplizierter: Wenn jemand zum Beispiel Insulin spritzen muss, muss es einerseits entsprechend gelagert werden, zudem wird ein kontinuierlicher Nachschub benötigt. Der Blutzuckerspiegel muss regelmäßig überprüft werden. Ich muss berechnen, was ich esse, um die Insulindosis daran anzupassen. Das ist unter diesen Bedingungen schwierig.
Wilmes: Wir haben zumindest in Münster aber noch niemanden gesehen, der etwa mit einer Insulinpumpe unterwegs ist. Die Leute haben oft andere Probleme, als an eine Blutzuckermessung zu denken – was natürlich schade ist, aber auch nachvollziehbar.
Winkels-Herding: Wenn Drogen im Spiel sind, verschärft sich das Problem. Bei kontinuierlichem hartem Drogenkonsum fällt letztendlich alles andere hinten runter. Da mangelt es im Prinzip an allem: An Hygiene, an einfachster Versorgung. Selbst massive Erkrankungen werden mit der Substanz weggedrückt und der Körper verfällt immer mehr. Ob das nun Atemwegsprobleme sind, Hautekzeme oder Zahnprobleme, Herz- Kreislauferkrankungen oder die Verdauung: Letztlich spielt nur der nächste Rausch eine Rolle. Diabetes kommt da ganz, ganz hinten.
Zucker beziehungsweise ein erhöhter Energiebedarf spielen eine besondere Rolle – aus dem Gespräch mit dem ASB entstand ja auch die Idee, kleine „Energie-Packs“ mit Süßigkeiten zu spenden. Warum ist das so?
Winkels-Herding: Grundsätzlich haben die meisten Obdachlosen einen erhöhten Energiebedarf: Weil die Menschen den ganzen Tag draußen verbringen, sind sie Wind und Wetter stark ausgesetzt – mit entsprechend hohem Energiebedarf. Obdachlosigkeit bedeutet immer: „Ich lebe von jetzt auf gleich – und muss das gerade akuteste Bedürfnis stillen.“ Da gibt es keine längere Planung. Das betrifft natürlich auch das Essen, schließlich hat niemand einen Kühlschrank dabei.
Wilmes: Das Thema Essen ist ein gutes Beispiel: Wenn wir Hunger haben, sind wir es gewohnt, einfach zum Bäcker oder Kiosk gehen. Für Obdachlose ist das deutlich komplizierter: Zunächst mal muss man sich Geld zusammenschnorren, Pfandflaschen sammeln, oder auf anderem Wege organisieren – und dann eventuell noch zubereiten.
Und Drogen verstärken dieses Problem?
Winkels-Herding: Eine Drogenkarriere ist im Prinzip ein Vollzeit-Job. Man muss ständig gucken, dass man sich irgendetwas besorgt: Ob das Geld ist oder Konsummittel. Man muss konsumieren und den Rausch durchleben, irgendwann auch mal was essen und man braucht einen Schlafplatz. Damit sind Drogenkonsumenten den ganzen Tag beschäftigt.
Letztlich haben alle Drogen einen Einfluss auf den Stoffwechsel des Körpers. Vor allem die sogenannten „Upper“- also im Prinzip alles, das wach macht – sorgen für einen erhöhten Energieumsatz im Körper. Substanzen wie Crack oder Amphetamine sorgen in der Regel auch für ein erhöhtes Bewegungsbedürfnis. Im Verlauf des Rausches wird außerdem das Hungergefühl unterdrückt. Wenn der Rausch dann vorbei ist, kommt es dann oft zu einem erhöhten Bedarf an energiereicher Nahrung. Aus diesen Motiven entstand die Idee, Obdachlose mit Süßigkeiten zu versorgen.
Herr Wilmes, Herr Winkels-Herding, vielen Dank für das Gespräch.
Wer ebenfalls einen Beitrag für die Obdachlosen in Münster oder für eines der vielen anderen Projekte des ASB leisten will, findet weitere Infos auf der Spendenseite des ASB Münsterland. Bei Überweisungen den Verwendungszweck „Obdachlosenhilfe“ angeben.